Wenn Tech-Firmen den Staat ersetzen / Digitalexpertin betont wachsende Risiken durch Auslagerung staatlicher Aufgaben - Technologieunternehmen haben immer mehr Einfluss auf Infrastruktur, Wahlen und Gesetzgebung.
Für die digitale Selbstbestimmung Europas und den Schutz demokratischer Werte haben diesen Dienstag alle EU-Mitgliedstaaten eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet. Auch die Digitalexpertin Marietje Schaake verfolgt dieses Ziel. "Ich möchte Europäer zu einem Kurswechsel im Umgang mit Technologie ermächtigen, damit die Stärkung unserer Demokratie Vorrang hat." Europa müsse den "Coup" von Technologieunternehmen verhindern, die zunehmend staatliche Kompetenzen übernähmen.
"Große Auslagerung" staatlicher Aufgaben
In ihrem Buch "Silicon Valley attacks" beschreibt Schaake, wie demokratische Regierungen im Zuge der Digitalisierung zentrale staatliche Funktionen an private Unternehmen delegieren - darunter Aufgaben der nationalen Sicherheit, den Betrieb digitaler Infrastrukturen und sogar Prozesse der Wahlorganisation. Infolge dieser "großen Auslagerung" hätten Firmen wie Apple, Meta und Microsoft ihre Kontrolle über Daten und Informationen erheblich ausgeweitet und könnten dadurch politischen Einfluss ausüben, der eigentlich Bürgerinnen und Bürgern und ihren gewählten Vertretern zustehe.
Ein Beispiel für diese Funktionsverlagerung sei die Präsidentschaftswahl 2017 in Kenia. Die Regierung nutzte das elektronische Wahlsystem KIEMS des französischen Unternehmens Safran, das die biometrische Identifizierung der Wählerinnen und Wähler, die Stimmenzählung und die Übermittlung der Ergebnisse sicherstellen sollte. Als die Opposition das Ergebnis anfocht, konnte der Oberste Gerichtshof die Integrität des Systems jedoch nicht prüfen, da Safran keinen Zugang zu den relevanten Wahldaten gewährte. Das Gericht erklärte die Wahl daraufhin für ungültig. "Das ist ungeheuerlich, wenn man darüber nachdenkt", sagt Schaake gegenüber der APA.
Technologien "keineswegs nur glänzend und schön"
Schaake warnt zudem davor, dass staatliche Stellen auch Unternehmen Aufgaben übertragen, die Technologien mit potenziell antidemokratischen Wirkungen einsetzen und dadurch Grundrechte wie Privatsphäre, Selbstbestimmung oder Pressefreiheit gefährden. "Wir müssen auch innehalten und einen kritischen, unvoreingenommenen Blick darauf werfen, was eine Technologie mit sich bringt. Und das ist keineswegs nur glänzend und schön", betont sie.
Als Beispiele nennt Schaake die Spionagesoftware Pegasus sowie das Softwareunternehmen Palantir. Dessen CEO Alex Karp erklärt: "Unser Produkt wird gelegentlich dazu verwendet, Menschen zu töten". Laut Schaake ermöglichte Palantir in Gaza "die gezielte Bekämpfung von Menschen durch Bombardierungen oder Attentate". Gleichzeitig hätten Unternehmen wie Palantir übermäßige Versprechen abgegeben. Mit Blick auf den Beginn des Ukrainekriegs erinnert sie: "Der CEO von Palantir sagte, dass das Unternehmen der Ukraine helfen würde, den Krieg zu gewinnen. Hat es das? Nein. Ich wünschte, es wäre so, aber nein."
Gesetzgebung im Rückstand
Nach Einschätzung Schaakes bleibt die Gesetzgebung zum Schutz rechtsstaatlicher Prinzipien hinter der technologischen Entwicklung zurück. Dies sei kein Zufall, sondern das Ergebnis intensiver Lobbyarbeit finanzstarker Tech-Unternehmen. Aus Sorge, Innovationen zu bremsen, verzichteten Regierungen mitunter auf notwendige Regulierungen. "Manchmal, wenn ich meine Augen schließe, kann ich nicht heraushören, ob gerade ein US-Politiker oder ein Lobbyist eines Tech-Unternehmens spricht, weil sie alle dasselbe sagen", so Schaake. Als positives Gegenbeispiel führt sie die EU an, die den Datenschutz vorantreibe.
Die Regulierung werde zusätzlich durch den "Drehtür-Effekt" erschwert: Immer mehr ehemalige Regierungsmitglieder wechselten in den Privatsektor, wodurch staatliche Institutionen an Fachwissen verlören, das bei der Gesetzgebung nötig ist. Als Beispiel für den Drehtür-Effekt nennt Schaake die Entscheidung des ehemaligen Bundeskanzlers Sebastian Kurz, für Peter Thiel zu arbeiten, den Mitbegründer von Palantir. "Ich finde, das ist eine vielsagende Entscheidung", sagt Schaake.
Strategische Vorsorge, Expertise und Beschaffung
Für die zukünftige Technologiepolitik empfiehlt Schaake das Vorsorgeprinzip: Technologien, die der Öffentlichkeit schaden könnten, sollten nicht implementiert werden. Dies gelte insbesondere für aufkommende Technologien wie Künstliche Intelligenz. "Jede Demokratie sollte wirklich verhindern, dass Wahlen und die öffentliche Debatte durch Algorithmen von sozialen Medien, Suchmaschinen und generativen KI-Unternehmen manipuliert werden".
Zudem fordert Schaake den Ausbau unabhängiger technischer Expertise in Parlamenten und Behörden. Sie schlägt die Einrichtung eines Technologiedienstes vor, der Gesetzgebungsprozesse fachlich unterstützt. Darüber hinaus brauche es Reformen beim Schutz von Geschäftsgeheimnissen für Unternehmen mit Staatsaufträgen, da diese derzeit als "pauschale Ausrede" dienten, um Transparenz und Rechenschaftspflicht zu verhindern.
Schließlich sollten Regierungen ihre erhebliche Kaufkraft nutzen, um verbindliche Standards wie den Datenschutz durchzusetzen. "Ich betrachte die Beschaffung als einen wichtigen Hebel für Veränderungen - also die Art und Weise, wie Regierungen Technologie einkaufen", sagt Schaake. Es sei nun notwendig, staatliche Ausgaben strategischer auszurichten und Digitalpolitik stärker im Sinne der Bürger zu gestalten.
fhp/pat
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